Kenny Lake und Chitina

Geisterstadt Chitina - alles stehen und liegen gelassen

Geisterstadt Chitina – alles stehen und liegen gelassen

Dienstag, 21. Juni 2016

Na wir sind also erst mittags losgefahren Richtung Wrangell National Park. Auf dem Weg haben wir die Trasse der Alaska Ölpipeline mehrfach gekreuzt und konnten sie einmal richtig gut fotografieren, als sie über der Erde auf Stelzen verlegt war.

So gegen 16 h waren wir dann am Kenny Lake RV Park (RV heißt Recreational Vehicle, also Urlaubsfahrzeug, sprich normalerweise ein gigantisches Motorhome. Dagegen ist unser Campervan ein Zwerg) und haben uns noch die 30 Meilen nach Chitina gegönnt. Chitina ist eine Geisterstadt am Copper River. Als dort der Kupferbergbau boomte, entstand Chitina aus dem Nichts und war für eine ganz kurze Zeit die florierendste Stadt in Alaska, so daß tatsächlich überlegt wurde, sie zur Hauptstadt zu machen!

Heute ist sie nur noch ein Anziehungspunkt für Touristen. Aber man hat Schwierigkeiten, die Geisterstadt Chitina von normalen Siedlungen in Alaska zu unterscheiden. Da es so viel Raum gibt, wird Altes einfach stehen gelassen – überall abgewrackte Autos, Häuserruinen in unterschiedlichen Stadien der Verwesung, gewaltige Schrotthalden neben dem Wohnhaus – ein Wiederverwendungseldorado, ein Traum für Sammler, Bastler, und Künstler.

Anschließend haben wir uns auf den Weg zur „Grizzly Pizza“ gemacht, einer Bar, die eine Solstice-Party ausgerichtet hat. Solstice ist Sommersonnenwende, der längste Tag im Jahr. In Alaska gibt es im Juni keine Nacht. Offiziell geht die Sonne am 21.6. gegen Mitternacht unter und um 4 h wieder auf – es wird kaum merkbar gegen Mitternacht ein kleines bisschen dunkler.

Die Party lief im Garten ab und war sehr familiär. Für 17 Dollar konnte man so viel essen und trinken wie man wollte, gegrilltes Huhn, Melone, und Kartoffelsalat. Die Zapfanlage ist zusammengebrochen, also wurden Bierdosen in eine Wanne mit Eis geschmissen. Die Gäste sahen teils wild aus, haben sich aber allesamt als total harmlos entpuppt, und kannten sich alle. Viele waren entsetzlich übergewichtig, viele sahen arm oder krank aus. Die jungen Leute sind Pot rauchen gegangen. Eine junge Frau im Rollstuhl war dabei, mit sehr starkem Tremor, vielleicht Multiple Sklerose, die sehr zärtlich von allen mit einbezogen wurde. Sie wurde auf die Stirn geküßt, immer wieder hat sich jemand zu ihr gesetzt und ihr was erzählt, und später wurde sie mit einer Decke warm eingewickelt. Auch die vielen kleinen Kinder wurden ausgesprochen liebevoll und entspannt behandelt. Live Musik haben die Gäste selber gemacht, und auch der Chef hat zur Gitarre gesungen, später mitsamt seinen ganzen Töchtern und Söhnen. Einmal hat ein Paar auf der Wiese zärtlich getanzt! Es war eine schöne Atmosphäre, aber wir waren klar die totalen Außenseiter. Die Party war erstaunlich leise und langsam und hat sich auch gegen Mitternacht nicht gesteigert – im Gegenteil, viele sind relativ früh gegangen. Wir dann auch, und sind wieder mal wie tot ins Bett gefallen. Am nächsten Morgen mußten wir um 8 h auf der Matte stehen, für die Tour nach Kennicott!

In der Früh hab ich im Campingladen noch schnell meine emails gecheckt, das Internet war morgens noch einigermaßen leistungsfähig. Neben mir ein älterer Ami, schlank und sehr braun. Wie üblich sind wir schnell ins Gespräch gekommen, und sein Stichwort war dann: Mikrobiologie. Gary hat erzählt, daß er ein Fischer in Valdez war. Er war selbständig und hat Hering gefischt, und der Hering ist durch den Öltankerunfall ausgestorben und bisher nicht zurückgekommen. Er hat seine Existenz verloren, und von Exon nicht einen Pfennig Entschädigung bekommen. Er hat geredet wie ein Wasserfall – es ging um 100 Millionen Entschädigung für die Fischer, Exon hat durch alle Instanzen dagegen geklagt, aber weil Exon und Bush der Ältere unter einer Decke stecken, hat ein Anruf von Bush genügt, um den Supreme Court davon zu überzeugen, daß es keine vernünftige Grundlage für eine Entschädigung an die Fischer gibt. Was hat die Fische vergiftet? Nicht das Öl, sondern das Adsorbens, das sie ausgebracht haben, um das Öl zum Verschwinden zu bringen, das aber die komplette Nahrungskette vergiftet hat. Und Unfall? Was für eine Absurdität! Dieses Riff KONNTE man nicht übersehen, es ist genau im Eingang zur Bucht. Die Ölpreise waren auf einem Minimum, Exon hat sich einen Kapitän gesucht, der ein Alkoholproblem hatte. Er hat den falschen Kurs direkt auf das Riff gefahren und seine Tür abgesperrt. Der erste Offizier hat innerhalb von Minuten reagiert und wollte eindringen, der Kapitän hat nicht geöffnet und später behauptet, er sei eingeschlafen.

All diese Geschichten hat er mir in den vielleicht 15 Minuten erzählt bis zur Abfahrt nach Kennicott. Und er war längst noch nicht am Ende, und ich hätte wahnsinnig gerne noch viele Fragen gestellt. Woher er das alles weiß, zum Beispiel. Ob es denn keine Sammelklage gab? Ob der Ölpreis dadurch tatsächlich hochgetrieben werden konnte?

Dem Mann war Unrecht getan worden und er war wie Michael Kohlhaas. Voll ohnmächtigem Haß angesichts einer berechtigten Forderung, insbesondere angesichts der Verlogenheit von Industrie und Politik und angesichts der Leichtigkeit, mit der anscheinend die ganze Welt an der Nase herumgeführt werden kann. Ich wollte unbedingt länger mit ihm reden, deshalb haben wir am nächsten Tag sein „homestead“ aufgesucht, seine Wohnung. Das war gruselig. Er war nicht da, aber dort war zunächst ein alter ausrangierter Pickup, eine Kollektion mehr oder weniger ausrangierter Fahrräder, dann ein riesiger Haufen alter Autoreifen, und schließlich ein unfertiges Haus, dessen Außenmauer aus Felsen zusammenbetoniert war. Eigenartige Gegenstände waren hineinbetoniert – ein Rohr zum Beispiel. Und am Giebel war ohne Zweifel ein Galgen. Im Garten waren zwei halb offene Zelte – ich vermute fast, daß er darin wohnt. Das Ganze richtig heruntergekommen und Ausdruck ohnmächtiger Verzweiflung.

3 Comments

  1. Manfred Weiß

    So meine Lieben,
    hier ist Herrmannchen calling.
    Hope all in good condition and still alive.
    Sensationelles mischt sich mit Erschütterndem (Fischer).
    Neues überdeckt laufend das Neue inzwischen zu gigantischen Haufen angewachsen. Saugt weiter auf und speichert ab.
    Hier bereiten Irenes äußerst anschauliche Wortgemälde tolle Bilder von einem irren Trip den nicht viele so machen. Zu Pferde hatte ich ja schon einen Eindruck von so was ….
    Schön dass wir dabei sein dürfen.
    Bleibt weiter munter
    Herrmannchen und Grüße vonne Rosi
    PS: Ich bewerbe mich um ein Exemplar der Publikation zu dem Adventure

    • irene

      Herrmannchen, hier ist Irene calling – gleichzeitig mit Dir bin ich im Blog scheint mir! Den Fischer hab ich grad erst ins Netz gestellt! Dein Wortgemälde muß ich sagen trifft es ziemlich haargenau. Neues stapelt sich auf Neueres noch nicht Verdautes. Mein Bedürfnis in Pakete zu verpacken und in den Blog zu stellen ist enorm – sobald irgendwo schnelles Internet ist, kann Jens mich für ein paar Stunden vergessen. Nicht mehr ansprechbar. So auch jetzt. Sitze wieder in einer Edel-Lodge und parasitiere am Internet. Jens ist zum Glück beschäftigt, beobachtet Tiere des Abends auf der Park Road im Denali Park. Dreißig Meilen in beide Richtungen ist kein Stellplatz für einen Campervan zu haben – wie durch Zauberei haben wir doch noch einen sogar für drei Nächte bekommen!
      Buchung ist vermerkt. Mach es gut, Rosi auch! Es ist so herrlich, Feedback zu bekommen!!!!!!!!!!! Irene

  2. Manfred Weiß

    Irene,
    ich kann dich nur ermutigen, bleibe bei deiner Politik.
    Was frisch erlebt ist, kann erfasst werden, bevor es überlagert wird.
    Wenn die Finger nicht mehr wollen, weil die Augen zwecks innerer Einkehr zufallen wirds ohnehin ungenau.

    Bleib dran

    Herrmannchen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.