Genau 26 Tage bis zum Abflug.
Der Plan war eigentlich, das funkelnagelneue Garmin Oregon in Betrieb zu nehmen und damit eine kleine Testwanderung im Elm zu machen, dabei auch die schicken neuen Outdoor-Klamotten einzulaufen und die Grippe endgültig zu vertreiben.
Das Oregon hat gebockt, und nach zwei Stunden hab ich es liegenlassen und bin in den lockenden Vorfrühling gelaufen.
Fast schlagartig ist Ruhe eingekehrt. Ruhe von gefühlt Millionen Planungs- und Koordinierungsaufgaben, Ruhe von allen Erwartungen, Deadlines, Reviews, Ruhe auch von allen Menschen, von den lauten Emotionen, den unerträglichen permanent präsenten Katastrophen auf der ganzen Welt, dem politischen Geschrei, dem ganzen lauten Unsinn, Gestreite, Machtkampf, Menschenzerstörung und Naturzerstörung.
Erst wußte ich nicht wohin überhaupt und bin automatisch den Osterspaziergang gegangen. Ganz langsam, wie in Trance. Dann wachte mein innerer Kompaß auf und wollte zu den kleinen Tümpeln im Reitlingstal. Vieleicht könnte man ja Kröten sehen! Oder einen Triops, einen kleinen braunen Urzeitkrebs. Wenn mir das mal im Frühling passieren würde!
Mit jedem Schritt wurde mir wohler, ich hab die Arme ausgebreitet wie ein Vogel, die Schulterschmerzen vergessen, jeden Schritt geliebt. Am Tümpel hab ich lange ins Wasser geschaut wie immer – es war gar nichts zu sehen, nur die Schönheit an sich. Das vollkommen klare Wasser, die untergetauchten Uferpflanzen, hier und da ein neues Grün. Und plötzlich fing alles immer mehr zu singen an, die Meisen, der Bussard ganz weit oben, die Buchfinken, ein Specht, das zarte jubelnde Tremolo von einem Fitis, der leichte Wind. Und da waren ja die Knospen schon ganz dick, und die Beeren vom letzten Jahr so unverschämt rot und saftig, und der ganze Waldboden von Waldmeister bedeckt. Vor mir im Tümpel zappelte ein winziges Insekt im Wasser und mir war zumute als wäre seine Rettung das einzig Wichtige auf der Welt. Aber es war gar nicht verloren, es hat vielleicht getrunken. Irgendwann ist es einfach hochgeflogen, war ich erleichtert!
Und dann die Igelkolben – unverschämt fotogen mit den weißen Bärten, in denen so herrlich die Sonne leuchtet! Immer wieder hab ich versucht, ein ganz besonders schönes Leuchten einzufangen. Und war wütend auf die Igelkolben – bildet Euch doch bloß nichts ein, weil ihr so selten seid und unter Naturschutz steht. Ihr seid auch nicht besser als Gras und Schilf!
Auf dem Rückweg war ich dann schon ganz schlapp. Die Grippe doch noch nicht besiegt. Die langen gefällten Buchenstämme am Weg, hellgraue Baumleichen. Das Sägemehl wie Baumblut. Und die roten Ringe um die Bäume, die als nächstes gefällt werden. Mir, in meinem geschwächten Zustand, war es unerträglich, daß der Mensch diese Bäume einfach zum Sterben verurteilt. Und ich dachte „Machet Euch die Erde untertan“ ist der Anfang der Katastrophe. Die Aufforderung zum Verbrechen.
Juliane Filser
Ach, meine liebe Irene, wie fühle ich doch mit dir! Schlage ich mich doch derzeit mit massiven Sorgen angesichts des echt dramatischen Insektensterbens herum, ersaufe in Terminen und habe dennoch so unendlich viel Freide an Arbeit, Natur, ja, und auch an Menschen – trotz des gesamten Wahnsinns, der auf politischer Ebene abläuft! Wie gönne ich dir diese Auszeit, und wie gerne wäre ich dabei! Genoeße es in vollen Zügen und sei ganz lieb gegrüßt von deiner Juliane
irene
Liebe Juliane, hast Du es doch geschafft reinzuschauen? Aber das war 26 Tage vor Beginn – das ist jetzt über einen Monat her! Man kann es ja sagen, wie oft man will, es glaubt eh keiner: Es ist eine Auszeit, ja, aber es ist auch eine Arbeitszeit! Was meinst Du wie herrlich man sich hier konzentrieren kann, versorgt rund um die Uhr mit Essen, ohne Pendelei zwischen Arbeit und zu Hause, abgelenkt durch rein gar nichts, und umgeben von fellow scientists! Eigentlich ist es eine Art sabbatical. Egal wie man es nun nennt, es ist einfach großartig und ich bin unendlich dankbar, daß ich das machen kann. Ich muß übrigens sehr oft an die Seeoner Kurse denken – das war der Anfang von allem. Liebe Grüße, Irene